Einfaches Menschsein

Ist Weihnachten wirklich schon wieder vorbei?

Zum Weihnachtsfest 2019 hatte ich keinen Beitrag und keinen Newsletter vorbereitet. Am Nachmittag des 1. Feiertages setzte ich mich dann an den Schreibtisch, um einen Weihnachtsgruß an die Menschen zu versenden, die mit mir über meine Arbeit verbunden sind. Als der Text fertig war, überkam mich ein seltsames Gefühl. Ich dachte an diejenigen, die ich in dieser Festtagszeit gesehen hatte, wie sie von einem Ort zum nächsten gehetzt waren, wie sie sich hatten stressen lassen von dem eigenen oder fremden Anspruch, dass alles pünktlich(!) „perfekt“ sein müsste. Ich sendete den Weihnachtsgruß nicht ab. Stattdessen entschied ich mich dazu, bis nach den Feiertagen nichts von mir hören zu lassen. Damit wollte ich nicht nur anderen, sondern auch mir selbst den Raum geben, um diese Tage als kostbare Zeit zu erkennen, um unserem einfachen Menschsein nachzuspüren.

Die Kunst, in der Einfachheit des Lebens Vollkommenheit zu erkennen, befreit zu einem Leben abseits von (selbstgemachtem) Stress.

Das „Fest der Liebe“, so meine ich, hat seinem Ursprung nach wenig mit den Perfektionsansprüchen zu tun, die so viele von uns an es anlegen. Es lädt vielmehr dazu ein, unser einfaches Menschsein zu entdecken, es dankbar anzunehmen und es würdevoll zu leben. Diese Einladung gilt ganz unabhängig davon, ob wir uns einer Religion zugehörig fühlen – und wenn ja, welcher – oder nicht. Auch ist es weniger wichtig, ob es gerade diese besonderen Tage Ende Dezember sind, an denen die Welt Weihnachten feiert oder ein ganz anderer Zeitpunkt im Jahresverlauf.

Als „Fest der Liebe“ kann Weihnachten in jedem einzelnen Augenblick in unserer Herz Einzug halten. Immer dann, wenn wir unser einfaches Menschsein dankbar annehmen und es in seiner ursprünglichen Vollkommenheit bewusst leben, feiern wir ein solches „Fest der Liebe“ mit uns und mit dem Leben. Wir brauchen also nicht zu warten, bis sich auch dieses Jahr wieder dem Ende zuneigt, um Weihnachten zu feiern, sondern wir können 2020 auch dazu nutzen, um so oft wie möglich ein wahrhaftiges, stressfreies, von überzogenen Perfektionsansprüchen befreites „Fest der Liebe“ zu feiern. Ein solches „Fest der Liebe“ können wir in genau diesem Moment“ feiern, indem wir unser Fühlen, Denken und Handeln mehr und mehr von der Liebe leiten lassen, die einfach genau das annimmt, was jetzt gerade ist … ohne es zu beurteilen oder es anders haben zu wollen. Eine solche liebende, hingebende Haltung wird uns in einer heiteren Gelassenheit schulen, die jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat dieses Jahres eine neue Qualität unseres Menschseins verleihen kann.

Alltagsübung

Damit wir uns immer wieder an die Kraft erinnern, die in der Einfachheit unseres Menschseins verborgen liegt, schenke ich uns allen heute einen Auszug aus einem der 12 Inspirationstexte in meinem neuen Buch „Wege zum Ich. Klar, selbstbestimmt und kraftvoll leben„. Er entstammt der Erzählung von einer einfachen Weihnacht, der wir in jedem einzelnen Moment – also auch genau jetzt(!) – wieder die Tür zu unserem Herzen öffnen können:

„Nun saßen sie im Flieger. Sie hatten ihren Lieben keine Weihnachtsgeschenke hinterlassen. Auch hatten sie keine Weihnachtspost versendet. Die Arbeit, die – ach so dringend – vor der Abreise erledigt werden sollte, blieb auf dem Schreibtisch zurück. Die Wohnung war nicht geputzt. Die Koffer hatten sie auf die letzte Minute und das letzte Gramm gepackt. Und Weihnachtsschmuck? Daran war gar nicht zu denken. […]

Und dann kam es, das Fest. Es war ein einfacher Tag. Sie gingen einfach in der Natur spazieren. Sie ließen sich einfach von einem Baby anlächeln. Sie aßen einfach ein Abendessen. Sie setzten sich einfach in ein Gotteshaus. Sie ließen sich einfach umbeten und umsingen von vielen unbekannten Menschen, deren Sprache sie nicht sprachen. Sie ließen einfach zu, was um sie herum geschah, ohne es zu verstehen.

War es nicht gerade eine einfache Einfachheit, in die derjenige hineingeboren wurde, dessen Geburt die Welt heute feierte? Und wurde nicht diese Einfachheit zu etwas Kostbarem, gerade weil sie einfach einfach sein durfte? […]

Und wie wäre es, wenn es jeden Tag weihnachtete? […] Wie wäre es, wenn wir nicht eiferten, um allen Selbst- und Fremdansprüchen zu genügen? […] Wie wäre es, wenn wir uns selbst und einander annähmen, wie Christus uns willkommen geheißen und angenommen hat, mit leeren Händen? […] Und wie wäre es, wenn wir das Geschenk des Lebens jeden Tag feierten? Wie sähe unser Leben dann aus?

Quelle: Dr. Wiebke-Lena Laufer; Wege zum Ich. Klar, selbstbestimmt und kraftvoll leben; Bielefeld 2019; © jkamphausen, S. 215 ff.

Das Foto zeigt das dem Text zugehörige Bild mit dem Titel „Einfache Weihnacht“ (Mehr erfahren).