
Wie konsequent tue ich das, was mich stärkt, und unterlasse das, was mich schwächt?
Ein mir unbekannter Mann nimmt den Flyer für eine meiner Veranstaltung zur Hand. Er lässt seinen Blick eine Weile darüber schweifen, schaut mich an und sagt dann: „Wissen Sie, früher konnte ich mit so etwas nichts anfangen. Heute sehe ich es ganz anders und bin offen dafür.“ Ich erfahre, dass er sich vor vielen Jahren seiner Alkoholabhängigkeit gestellt hat. „Ich habe damals erkannt, dass es so nicht weiter gehen konnte und mir Hilfe gesucht. Ich wollte aber nicht raus aus meinem Umfeld, obwohl mir die Experten zuerst ans Herz legten, einen radikalen Schnitt zu machen. Nein, ich wollte es inmitten meiner Lebenssituation schaffen, trocken zu werden und zu bleiben. Ich wollte mich nicht mein Leben lang vor jeder Versuchung verstecken müssen, sondern lernen, ihr standzuhalten“, berichtet er. „Und, ich habe es geschafft! Nicht ganz allein aus mir selbst heraus, sondern auch mit der Unterstützung meiner Familie und professioneller Hände. Inzwischen bin ich seit 25 Jahren trocken und helfe anderen Menschen dabei, dass auch sie es schaffen. Durch meine Geschichte habe ich gelernt, wieder mit mir selbst in Kontakt zu kommen. Dazu gehe ich z. B. gern in die Natur und wandere. … Früher haben wir so etwas doch auch ganz selbstverständlich zwischendurch gemacht … in Kontakt zu uns selbst zu kommen, meine ich. Wenn wir an der Bushaltestelle standen und warteten, waren wir bei uns und mit unseren Gedanken unterwegs. Wie selbstverständlich nehme auch ich heute mein Handy zur Hand, statt die Zeit zu nutzen, um einfach bei mir zu sein. Dann erinnere ich mich aber wieder daran, dass es die konsequente Konfrontation mit mir selbst war, die mich dafür gestärkt hat, auch im Angesicht der täglichen Versuchungen standhaft zu bleiben. Also lege ich das Handy wieder aus der Hand, und bin einfach bei mir selbst.“
Es ist wohl eine der größten und zugleich lohnenswertesten Herausforderungen, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und auch konsequent zu bleiben.
Die Begegnung mit diesem Mann hat mich mit tiefem Respekt und Demut erfüllt. Sie hat mich still werden lassen angesichts seines Mutes, sich selbst in die Augen zu schauen, angesichts seiner Klarheit, Änderungen herbeiführen zu wollen(!) und angesichts seiner Konsequenz, es auf seine ganz eigene Weise zu tun … und damit erfolgreich zu sein.
Alkoholabhängigkeit ist eine der unzähligen Möglichkeiten, mit denen wir Menschen uns selbstgebaute Gefängnisse errichten. Wir nehmen Gewohnheiten an, die uns schwächen und uns auf Dauer sogar erheblichen Schaden zufügen können. Oft wissen wir sehr genau, welches Tun und welches Unterlassen in unserem Leben dazu führen, dass wir nicht in unserer vollen Kraft stehen. Das macht die Sache oft noch schlimmer, weil uns nicht „nur“ die schlechte Gewohnheit schadet, sondern auch die fehlende Selbstachtung, mit der wir uns ansehen, weil es uns nicht gelingt, unser Verhalten zu ändern. Dadurch entsteht ein unheilvoller Kreislauf aus fehlender Selbstachtung und einem Handeln, das uns zusätzlich schadet.
Wenn wir diesen Kreislauf an Negativität durchbrechen wollen, müssen wir zunächst hinsehen. Wir müssen in Kontakt zu uns selbst kommen und uns fragen, was wir – genau wir selbst(!) – dafür brauchen, um zerstörerisches Handeln auf positive Weise zu wandeln: Was braucht es für mich, für mich ganz persönlich, damit ich etwas ändern will und kann?
Alltagsübung
Ich mache mir zunächst klar, dass ich als „lebendiges System“ immer um Ausgleich bemüht bin. Jede meiner sogenannten „schlechten Gewohnheiten“ erfüllt also einen Sinn. Oft sind solche Gewohnheiten nicht die Ursache, sondern nur die Wirkung einer Negativität, z. B. einer Traurigkeit, einem Kummer, einer Wut etc., die ich noch nicht loslassen konnte. Wenn ich das erkannt habe, kann ich barmherziger auf mich selbst schauen. Ich kann überprüfen, ob ich gerade wirklich (schon) dazu bereit bin, mich den „großen Themen“ in meinem Leben zu stellen, oder ob ich erst mit einer kleineren Herausforderung beginne. Vielleicht treffe ich zu Beginn eine „überschaubare Verabredung“ mit mir selbst, durch die ich mich liebevoll an die Hand nehme und erst einmal einübe, mich konsequent an etwas zu halten, was mir wichtig und notwendig erscheint. Das könnte so etwas sein, wie jeden Morgen 10 Minuten in der Stille mit mir selbst zu sein oder mich täglich – unabhängig von der Wetterlage – 30 Min. draußen zu bewegen. Was es auch sei, ob kleiner oder größer, ich übe mich darin, mich konsequent an eine Verabredung mit mir selbst zu halten. Dadurch schöpfe ich nach und nach tieferes Vertrauen in mich selbst, erhöhe meine Selbstachtung und bin dann auch dazu bereit, weitere Vereinbarungen mit mir zu treffen, die auf Dauer noch größere, noch positivere Veränderungen in meinem Leben mit sich ziehen können. Ich beginne nicht erst morgen damit …, sondern heute, genau jetzt!